Ulan Osna

Transkulturelle Turbulenzen.

Performance& Intervention im öffentlichen Raum

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Eine Stadt, eine Utopie, eine parallele Wirklichkeit.

 

UlanOsna ist entstanden zwischen der deutsch niedersächsischen Stadt Osnabrück und der burjatischen Hauptstadt Ulan Ude im südöstlichen Sibirien. Sie wurde simultan in beiden real existierenden Städten gegründet und schwebt nun fortwirkend als parallele Wirklichkeit innerhalb einer 7000 km langen gekrümmten Distanzlinie. Die Ergründung, Kultivierung und Belebung der Stadt UlanOsna ist entstanden aus dem Prozess einer Forschungsreise transkultureller Turbulenzen zweier Länder. Doch sie ist nicht nur ein Zusammentreffen von Begegnungen der Menschen unterschiedlicher Herkunft. Vielmehr ist sie eine Rendezvous konträrer Kreise und Verschmelzung antipodaler Welten. Es ist eine Stadt unzähliger Gegensätze: Fremde & Freunde, Moderne & Tradition, Vergangenheit & Zukunft, Okzident & Orient, Atheismus & Theismus, Natürlichkeit & Künstlichkeit, Natur & Stadt, Ost & West , Erlaubt & Unerlaubt, Eingeführt & Ausgeführt, Ulan & Osna. Die schwebende Stadt ist Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Fiktion. Sie ist Schnittpunkt der Peripherie mehrerer Welten. So bildet der Stadtkern nicht ein ruhendes Zentrum, sondern einen von Paradoxien belebten Marktplatz. Anders jedoch als in irdischen Welten, in der die gewohnten physikalischen Gesetzte der Abstoßung zweier unterschiedlicher Pole gilt, kann man beim genaueren beobachten die ineinander umschlungenen Paradoxien auf den Parkbänken der utopischen Stadt UlanOsna erkennen.

Ich selbst, schwebend nun in einem Zwischenraum der sich nennt UlanOsna, betrachte die während der Exkursion entstandenen Fotografien. Auf jedem einzelnen Bild erscheint ein verschwommenes, farbiges Zusammenspiel erlebter Erinnerung und paradoxer Zusammenkünfte. Die Begegnung werden wieder lebendig und Gedanken und Gefühle nochmals erlebt. Viele Beobachtungen und damit einhergehende Fragen füllen den Raum des gegenwärtigen Momentes. Besonders ein Sachverhalt stößt auf interessante Erregung beim Betrachten der Aufnahmen. Während in Ulan Ude die Natur im Fokus eines jeden Bildes steht, sind auf den 150 Fotografien der osnabrückschen Exkursionszeit eine abzählbare Anzahl an Bäumen zu sehen. Anders als in meiner Heimatstadt, scheint mir die Natur durch den Blick meiner Aufnahmen, der größte und lebendigste Organismus in dem sibirischen Gebiet zu sein. Liegt dieser Fokus nur in meiner innerlich entfachten Leidenschaft für die Schönheit der sibirischen Natur begründet oder wurde er erst hervorgebracht durch den Bezug der sibirischen Menschen dazu? In wie fern erlebte ich die Mensch-Natur Beziehung in Ulan Ude und Osnabrück? Und besteht substanziell eine paradoxe Kategorie Stadt-Natur, die hier in UlanOsna aufeinander prallt? Unter Betrachtung der kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe der beiden Städte und unter Berücksichtigung der gegensätzlichen Positionen wie Atheismus,Theismus, sowie Tradition und Moderne, möchte ich die mir gestellten Fragen tiefer beleuchten. Außerdem möchte ich explorieren, wie die wahrgenommenen Gegensätzen der transkulturellen Reise nun im Fortwirkenden erlebt werden. Entsteht zwischen den oppositären Welten eine Kluft unnahbarer Sichtweisen oder kann dies vielmehr erfahren werden, als Nahtstelle, in der die Chance liegt, Individualitäten der divergenten Kulturen zu einem metaphorischen Stoff der Begegnung und des Erkennens der Gemeinsamkeit in der Gegensätzlichkeit einander ergreifen zu lassen?

Im folgenden wage ich den Versuch, den außenstehenden Betrachter einen Einblick in die transkulturelle Turbulenz des Zwischenraums „UlanOsna“ zu verschaffen und gemeinsam durch einen reflektierenden Blickwinkel, die polare Gestalt davon zu ergründen.

Die Reise beginnt.

An einem Sonntag, den 20. Mai 2018, um 8.10 Uhr kreist die Flugmaschine über die sibirische Landschaft. Der Himmel ist wolkenlos. Baumlose Tundra, Grassteppen westlich und endlose Wälder östlich von dem Landeplatz sind zu sehen. Inmitten dessen die Stadt Ulan Ude. Der Fluss Uda, der in den von Südwesten kommenden Fluss Selenga mündet, durchquert die Stadt. Berge und Hügel durchbrechen das Zentrum und kleine verwinkelte Bretterhütten in kilometerweiten Ausläufen begrenzen die sibirische Metropole. Gelandet und Angekommen. Die von oben erscheinende Stille des Landes, zeigt sich auch nach Begehung des sibirischen Erdbodens wieder. Beim späteren Nachforschen, welche Bedeutung der Name „Sibirien“ trägt, stoße ich auf einen unwiderlegbaren Beweis meiner Empfindung. Aus dem Tatarischen übersetzt bedeutet der Name des Gebietes: „Das schlafende Land“.

Einige Tage nach Ankunft, bestreiten wir den Weg zum Baikalsee und durchfahren die bereits von oben bewunderte Landschaft. Mitten in einem Pinienwald kommt der Bus auf einer matschigen Nebenstraße zum Stehen. Eine ältere Frau, mit grünem Kopftuch um das kräftig rote Haar gebunden, lächelt uns mit ihren Goldzähnen aus ihrem Unterschlupf zu. Es ist eine Schamanin, die ihren Tisch gedeckt hat mit unzähligen Heilkräutern, welche einen intensiven Duft verbreiten. Edernöl und Zedernüsse, Wurzeln und Moosbeeren, eingelegtes Farnkraut und Baumharz. Unsere Gastschwestern erzählen uns von der Wertigkeit der Naturheilung in ihrer Region: „Bis heute noch sind moderne Arzneimittel aus russischer Produktion rar. Auch aus diesem Grund, wird häufig auf die alten traditionellen Heilmittel aus der Natur hohen Wert gesetzt. Geknetete rohe Kartoffeln geformt zu Zäpfchen helfen noch heute gegen Hämorriden. Mit verdutzten Blicken und fragendem Gesichtsausdruck saugen wir die fremdartigen Informationen auf. Mein Blick wandert zurück zur Schamanin. Bei lebendiger Aussprache versucht sie mir unverständliches zu erklären. Immer wieder zeigt sie auf die neben sich stehende Wodkaflasche. Möchte sie etwa mit mir anstoßen? Nein, ich lache und verstehe. Vielmehr versucht sie zu artikulieren, dass das traditionelle Getränk fester Bestandteil einer jeden Hausapotheke ist und als Bekämpfungsmittel gegen jegliche Art von Bakterium wirkt. Ist der Krankheitsfall ernster, ist der Besuch beim Schamanen jedoch notwendig und wird den der Ärzte vorgezogen. „Sie nehmen keine Heilungsgebühren“, erzählen uns die Einheimischen, „sondern sie leben von dem, was die Leute ihnen geben“.

Der Besuch der älteren Dame am Rande der Zivilisation ist die erste zaghafte Berührung mit dem Schamanismus - einer uns fernen und fremden Welt. Betrachtet man die Geschichte Sibiriens der letzten hundert Jahre ist festzustellen, dass die Auslebung des Schamanismus ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast kaum noch vertreten war. Durch die atheistische, sozialistische Politik war der Schamanentum der Verfolgung ausgesetzt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte man ein auffälliges wiederaufblühen der schamanischen Traditionen in vielen der damaligen sowjetischen Republiken vernehmen. Vor allem im Süden Sibiriens gewann der naturspirituelle Glaubensweg wieder zunehmend an Bedeutung.1 Nicht nur die einheimische Bevölkerung lässt alte Traditionen und die vertriebene Glaubensrichtung des Schamanismus wieder aufkeimen. Auch die Tourismusbranche hat scheinbar in der sibirischen Stadt Ulan Ude Potenzial erkannt und stellt in Souvenirläden sämtliche Gegenstände in schamanischen Zusammenhang. Auch in meinem zweiwöchigen Aufenthalt treffe ich wiederkehrend auf schamanisch allegorisch aufgeladene Alltagsgegenstände. Selbstgestaltete Schlüsselanhänger mit schamanistischen Symbolen, Kehlkopfgesang als Hintergrundmusik im Supermarkt oder traditionsaffizierter Schamanenteetrunk servierte im Stadtcafé, sorgen dafür dem Unbekannten vorsichtig entgegen zu treten. Jedoch die Erfahrung mystischer Realität ritueller Handlungen blieb mir selbst, bis heute, verborgen. Hingegen der Kontakt mit dem damit einhergehenden Ahnenglauben, ist fester Bestandteil meiner Erinnerung.

Angekommen am Baikalsee bewundere ich die Weite und das schimmernde Ufer. Das Funkeln der Steine macht mich neugierig. Ich trete näher und stelle mit Verwunderung fest, dass es sich um unzählige Bonbons und Süßigkeiten handelt, die durch ihre Plastikverpackung in der Sonne glitzert. Ich frage nach dem „Warum“ und bekomme eine Antwort: „Das ist für die Ahnen. Sie gehören genauso zur Gemeinschaft wie Du und Ich. Deshalb ist es wichtig in lebendiger Verbindung zu Ihnen zu stehen und in Form von Opfergaben an sie zu denken. Jene, von uns gegangene Seele der Menschen, der Tiere, der Bäume sind Ahnen. Sie schaffen den Verbindungsweg für eine göttliche Lebenskraft und ermöglichen einen Transit zu Gott, der mit Hilfe von Schamanen durchgeführt werden kann. Alle Seelen kehren zurück zur Einheit und sind verbunden mit den Urahn - dem Göttlichen.“ Wir unterhalten uns über den Glauben an die Ahnen angeregt. „Schade nur, dass so viel Verpackungsmaterial in der Umwelt gelassen wird. Das ganze Plastik tut der Natur nicht gut“, erwähnten wir im Gespräch. „Ja, aber die Ahnen...!“, zischte es zurück.

Verblüfft von dem Ahnenglaube und gleichzeitig betrübt von dem Anblick der Kunststoffpapierchen spaziere ich weiter. Meine These, dass schamanische Naturreligionen intuitiv ökologisch leben, stellt sich mir in Frage. Ich versuche zu Verstehen, dass das Naturverständnis der einheimischen Bevölkerung auf dem Schamanismus ruht und nicht wie in der deutschen Kultur auf den Gedanken von Nachhaltigkeit, Naturschutz und Erholung. Eine Interessante umfangreichen quantitative Bevölkerungsumfrage des Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) von 2017, welche ich im Anschluss an unserer Reise entdeckte, fundiert meine Wahrnehmung. Der Naturbegriff und Umgang steht in der einheimischen deutschen Bevölkerung signifikant in der Verbindung mit Nachhaltigkeit und Naturschutz. Der Aussage: Was unsere Identität in der Region ausmacht, ist im wesentlichen die hiesige Natur“ stimmten 19% der deutschen Befragten voll und ganz zu. Anders fällt jedoch die Beantwortung der Frage beim Betrachten des Problembewusstseins in Bezug auf die Natur aus. 79% der deutschen Bevölkerung „halten die Art und Weise, wie mit der Natur global umgegangen wird für äußerst problematisch“.2

Trotz des ökologischen Fokus im Umgang mit der Natur, herrschen in Deutschland und somit auch in Osnabrück bedenkliche Zustände. Abgasprobleme, Bodenversieglung, Biodiversitätsverlust und mangelnde globale Verantwortungsübernahme verdrängen das natürlichen Gleichgewicht. Dem Diskurs zur Nachhaltigkeit kann sich heutzutage kaum jemand entziehen. Für die am Baikalsee lebenden Burjaten ist die Einheit von Natur und Mensch hingegen überwiegend selbstverständlich. Die Natur gilt dort nicht nur als Lebensgrundlage und Basis des Wohlergehens, sondern sie ist Quelle ethischer und moralischer Anschauung. Noch heute ist beispielsweise der Baikalsee nicht nur Ort der Erholung, sondern trägt eine höhere Bedeutung. Er wird als lebendiges und heiliges Wesen angesehen. So folgt man noch heute den traditionellen Glaubenssatz, dass alles was dem Baikalsee zugefügt wird, gleichsam dem gesamten Kosmos „verletzt“. Schon damals stand in den Gesetzten der Regierungszeit von Dschingis Khan (circa 1206-1227 n. Chr.), dass u.a. das Aufgraben der Erde mit Todesstrafe sanktioniert wird. Anhaltend bis in die Gegenwart, wart sich der Respekt vor der Natur. So ist es nicht wunderlich, dass man noch heute über eine enorme Artenvielfalt am Baikalsee staunen kann. Naturverbundenheit heißt also nicht automatisch Nachhaltigkeit. Und Nachhaltigkeit nicht gleich Naturverbundenheit. Und dennoch besteht eine tieferliegende substanzielle Verbindung zwischen diesen beiden Begriffen.

Ich denke am Ufer des Baikalsees über die gesellschaftliche Auslebung von Religion und Glaube, als auch über Tradition und Modern in der Utopiestadt UlanOsna nach, während meine Füße im eiskalten Nass, einige vergnügte Wellen über die leicht erregbare Haut des lebendigen Wasserriesen, hauchen. In meiner Imagination spaziere ich durch die Gassen der schwebenden Metropole. Ich betrachte die fiktive Architektur der utopischen Stadt UlanOsna. Geschichtsträchtige Gebilde befinden sich neben religiös aufgeladenen Glaubensstätten. Ich blicke durch die Fenster des Osnabrücker Rathauses und erspähe den Friedensaal, nebenan ein russisch orthodoxer Gebetsraum. Kunstbiotope, werden von den Stadtbürger*innen bewohnt. Sie stehen am Rande der großflächig gewachsenen Pinienwälder, um die sich UlanOsna stets mit Leidenschaft bemüht. Auf den Straßen tummeln sich hippe Hightechbürger, Gelehrte, Mönche, Künstler*innen und Altgläubige. Sie sitzen gemeinsam auf den Parkbänken und in Gaststätten und sind im regen Austausch zueinander. Serviert werden in den gemeinschaftlichen Stuben traditionelle Gerichte, wie zum Beispiel Borschtsch (Rote Beete-Suppe) oder Kartoffelklöße,Sauerkraut und Buuys (gefüllte Nudeltaschen), außerdem Zwiebelschmalz beschmiertes Schwarzbrot, süße Piroschkys (Teigrollen) und dazu Rote Grütze. Die Schaufenster der Geschäfte sind geschmückt mit handgemachten Gebrauchsgegenständen, sibirischer Trachtenbekleidung, traditionell gebrautes Bier aus der Teutoburger Waldquelle, Raucherstäbchen für rituelle Reinigungen, eine wechselnde Ausstellung an fesselnden regionalen Kunstwerken, Upcycling Spielzeug und Matrjoschkas. Außerdem gibt es ein Theater, ein Opernhaus und mittendrin eine acht Meter große Darstellung von Lenins glattpoliertem Kopf. Ebenfalls finden sich viele kleine gemütliche Bibliotheken in den verwinkelten Gassen wieder, die unter anderem regelmäßige Leseabende zu den Themenschwerpunkten: Verbindung von Moderne & Tradition, Beziehung von Bildung & Spiritualität oder das Zusammenspiel von Stadt & Natur in UlanOsna, anbieten. Auch im Stadtkern aufgestellte digitale Infotafeln und analoge Litfaßsäulen inspirieren zum philosophischen Diskurs über die Fusionierung von Ulan & Osna. Am Ende der imaginären Hauptstraße erkenne ich ein Barockes Schloss, welches erbaut wurde von dem Fürstbischof Ernst August der I. Es wird genutzt als Ort der Wissensvermittlung. Nebenan ragt ein buddhistisches Kloster in den Himmel, als Bildungsstätte für Weltoffenheit, Weitherzigkeit und Weisheit. Gruppierungen von Menschen gibt es nicht. Vielmehr lebt die Stadt UlanOsna in schrankenloser Vielfalt und in einer Fusionierung von scheinbar polaren Positionen.

Lebhaftes Treiben aus dem Hintergrund bringt mich zurück an das Ufer des Baikalsees. Die über dem Feuer zubereiteten Speisen sind fertig und verbreiten einen anlockenden Duft in den Wald hinein. Jeder von uns, alle auf Baumstämmen sitzend, bekommt ein mit Wodka gefülltes Plastikgefäß. Ich selbst beobachte unseren Tour-Begleiter, einen zartgliedrigen älteren Herr mit dunklen Augen und leichten Bartwuchs. Gekleidet in grünbrauner Wollmontur, stochert er mit einem Lächeln leidenschaftlich in der Glut der Kochstelle. Mit der anderen Hand hält auch er ein fast durchsichtig erscheinendes Wodkaglässchen. Ebenso wie Manche der beschwingten Baikalseebewunderer, schwingen die Nadelbäume im Wind, lodern die Flammen empor, singen die Vögel aus voller Kehle und funkeln kleine Zuckeraugen am Uferrand. Sa sdorowje“ , freudig wird der Toast ausgesprochen. Während die Studierendenschar fröhlich anstößt, schaut der ältere Feuerherr in sein randgefülltes Wodkaglas. „Sa sdorowje“, raunt er zurück. Er schüttet ein paar Tropfen des Wodkas auf den Boden und gedenkt den Ahnen, bevor er selber einen Schluck nimmt.

Während des künstlerischen transkulturellen Austausches ergaben sich viele solcher Situationen, die mir im ersten Augenblick merkwürdig und fremd erschienen. Es waren Zustände in denen Neues aus dem unmittelbaren Erlebten mit archaischen Gefühlen kollidierten. Es waren verflochtene Gegebenheit, welche die gewohnten Sichtweisen bezweifelten bzw. festgefahrene Handlungsmuster hinterfragten und nun als wertvolle Anregung weiterleben oder gar eine neue Ausrichtung erfahren.

Als transkulturelle Mischlinge von Ulan & Osna verabredeten wir uns in Ulan Ude für den letzten gemeinsamen Abend vor unserem Heimflug. Draußen pfeifen die Winde - stark, trocken und vor allem eisig. Die Schaukeln im Innenhof bewegen sich in dem sibirischen Lufthauch wie von Geisterhand und tragen ein Quietschen in die Stille. Alles scheint zu schwingen. Die Bäume und Gräser, die Ein- und Ausgänge, die Gedanken und Herzen.

Alle gemeinsam haben wir es uns in der Universitätsbehausung gemütlich gemacht. Als befinden wir uns im Auge des eisigen Orkans, sitzen wir eng aneinander gekuschelt und umschlungen beisammen. Gemeinsam erlebte Erfahrungen und Imagenationen schweben im Raum. Wir schwadronieren über unsere gemeinsamen Fusionen und Ideen.

Ich selbst schweife kurz ab. Während des Austausches war ich beständig auf der Suche nach dem was uns verbindet. Nach dem was UlanOsna zu eine Ganzheit verflechtet. Ich schaue mich um, betrachte die mich umgebenden Freunde, die nicht mehr Fremde sind und weiß inzwischen was unsere Unität ausmacht. Es sind wir selbst, die trotz den scheinbaren antipodalen Zustände unserer Außen- und Innenwelt, Natur und Stadt, Moderne und Tradition, Atheismus und Theismus, Gleichheit und Ungleichheit, trotz transkulturellen Turbulenzen, eine Einheit bilden. Wir als Menschen, neugierig, begegnungssuchend und strebsam nach dem Anderen. Wir erschufen gemeinsam einen Ort, indem die Zusammenkunft von traditionellen und modernen, östlichen und westlichen Sichtweisen möglich ist. Wir kreierten eine Stadt, welche mitfühlende Begegnungen, verständnisvolle Gedankengänge und frische Ansätze entflammte, welche nun als wichtige Orientierungshilfe im Hinblick auf herkömmliche Wert und moralischen Einstellungen im Wirkungsfeld stehen. Auch wenn UlanOsna von kleinen Ungereimtheiten und Lücken durchdrungen ist, ist es nicht mehr ein Kluft unnahbarer Sichtweisen, die sich zwischen uns auftut. Vielmehr liegt nun vor uns ein Raum, in dem die Nahtstelle zweier Welten miteinander eng verschweißt und vereint ist. Erst wenn ein Teil des Stromes gegen die Strömung strömt, entsteht Turbulenz. Vor uns liegt UlanOsna.

 

 

 

 

 

 

1 Mihály Hoppál: Das Buch der Schamanen. Europa und Asien. Econ Ullstein List, München 2002.

2 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (Hrsg.): Naturbewusstsein 2017. Bevölkerungsumfrage zu Natur und biologischer Vielfalt, Berlin 2017.